MIRJAM KUITENBROUWER

MATTHIAS HERRMANN

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Wenn Schreiben tätig Denken ist (wie Mirjam Kuitenbrouwer in den Aufzeichnungen für ihre Ausstellung in der Secession notiert hat, Seite 24) was ist dann Kunst-machen? (Wie bezeichnend, daß es im Deutschen kein ordentliches Verb für diese Tätigkeit gibt: der Künstler kann malen, zeichnen, aquarellieren, selbst photographieren – die heute nicht mehr in Frage gestellte Einsicht, daß es jedoch nicht nur dieser ausübenden Tätigkeiten bedarf, um Kunst zu machen, hat sich noch in keiner Verbbildungen niedergeschlagen).

Louise Bourgeois, nicht nur für Kuitenbrouwer eine der grossen Referenzpersonen in Bezug auf die Entstehungsmodalitäten von Kunst, benannte einmal eine ihrer grundlegenden Bedingungen: ‘Etwas ist ein Kunstwerk, wenn es seine Rolle als Therapie für den Künstler erfüllt hat.’1

Der Selbstreflexion Kuitenbrouwers steht die Reflexion über den Blick, über die Gerichtetheit des Blickes, über die Wahrnehmung im allgemeinen gegenüber; mit bestechender Offenheit sammelt sie Gedanken, die in ihrer suchenden Dichte dem Publikum die Möglichkeit zum Weiterdenken geben. In den gemalten und gebauten Arbeiten finden wir Pendants zu den in den Texten und schriftlichen Überlegungen geäusserten Gedanken: Kuitenbrouwer untersucht die Einsicht und die Aussicht, den Zusammenhang zwischen Blickraum und Raumblick, aber auch den Wunsch, trotz grösster innerer Intensität nicht zu vereinsamen.

Sich schreibend, denkend und Kunst machend zu deklarieren, Stellung zu beziehen und ein Koordinatensystem aufzubauen, welches im Idealfall (und davon gehen wir aus) auch für die Betrachterin und den Betrachter neue Sinnzusammenhänge ergibt: indem sich die Künstlerin in einem historischen Regelwerk bewegt, gleichzeitig jedoch dessen Grenzen sprengt, schafft sie sich und ihrem Publikum neue Ein- und Ausblicke.

Matthias Herrmann, Präsident

1. Die Presse, 14.10.1997, S. 25

 

 

Expose (English version)

If writing is thinking in action (as Mirjam Kuitenbrouwer has remarked in the notes for her exhibition at the Secession, page 24), then what is art-making? (It is significant that there is no proper verb which expresses this activity: an artist can paint, draw, color, even photograph – yet the recognition that practicing these activities is no longer a requirement for making art, which no one would doubt today, has not yet led to a corresponding verb form.)

Louise Bourgeois, one of the major figures of reference regarding the modalities of creating art, not only for Mirjam Kuitenbrouwer, once named one of the fundamental conditions for it: “Something is an artwork, if it fulfills its role as therapy for the artist.”1

Kuitenbrouwer’s self-reflection contrasts reflection on the gaze, on the directedness of the gaze, on perception in general. With engaging openness, she collects thoughts, whose searching density enables the audience to continue the train of thought. In the painted and constructed works we find counterparts to the ideas expressed in the texts and written reflections: Kuitenbrouwer investigates the insight and the outlook, the conjunction of the space of a gaze and a view of space, but also the wish that even the greatest inner intensity should not lead to loneliness.

A declaration of herself as writing, thinking and making art, taking position and constructing a system of coordinates that ideally (and we presume this is the case) results in new conjunctions of meaning for the observer as well: by moving within an established historical framework as an artist, yet bursting its boundaries at the same time, she creates new insights and outlooks for both herself and her audience.

Matthias Herrmann, president

translation: Aileen Derieg

 

1. Die Presse, 14.10.1997, p.25

 

Reservoir Spillway

MIRJAM KUITENBROUWER

Wiener Secession, 2000, ISBN 3-901926-26-7

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